Berichte 2019

«Wir müssen lernen, damit umzugehen»

Im Interview erklärt Annelies Zinkernagel, wie wichtig Kommunikation in der Pandemie ist und welchen Aspekten daraus sie auch Positives abgewinnen kann.

Frau Zinkernagel, erinnern Sie sich daran, wann Sie sich zum ersten Mal mit dem Coronavirus beschäftigt haben?

Ja, ich erinnere mich sogar sehr gut daran. Anfang Januar 2020 war ich in Madrid, um eine internationale Konferenz vorzubereiten. Damals war SARS-CoV-2 bereits sequenziert und meine Kollegen und ich haben das Virus sehr intensiv besprochen.

Haben Sie damit gerechnet, dass es zu einer Pandemie von einem solchen Ausmass kommen würde?

Nein, davon bin ich nicht ausgegangen. Ich hatte gehofft, dass es sein würde wie bei der SARS-CoV-Epidemie vor einigen Jahren. Sehr schnell aber zeichnete sich ab, dass es diesmal ganz anders kommen würde. Am USZ haben wir deshalb schon früh damit begonnen, uns vorzubereiten und die Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachbereichen in einer Taskforce zusammenzuziehen.

Was waren die ersten Schritte, als Sie realisiert haben, was da auf uns zurollen könnte?

Von Anfang an hatte der Schutz unserer Mitarbeitenden höchste Priorität. Weil wir noch wenig wussten, waren die Massnahmen damals viel aufwendiger als heute, wir haben uns förmlich in Schutzmaterial eingehüllt. Es war sehr anstrengend, so zu arbeiten. Uns war aber wichtig, dass die Mitarbeitenden sich sicher fühlten. Sie sollten sich ohne Angst um die Patientinnen und Patienten kümmern können. Angst war denn auch bei der ersten Welle ein entscheidender Faktor. Die damals nicht enden wollende Bilderflut aus Italien, die ein Gesundheitswesen am Anschlag zeigte, hat den Menschen grosse Angst gemacht – auch unserem Personal.

Was empfanden Sie in dieser Situation als besondere Herausforderung?

So vieles war damals noch unklar. Beeindruckt hat mich deshalb, mit welchem Selbstverständnis Informationen unter Fachleuten ausgetauscht wurden. Das hatte ich so noch nie erlebt. Wir führten zum Beispiel Telefonkonferenzen mit den Kolleginnen und Kollegen in Italien und kamen so zu wertvollen Einsichten. In der Schweiz sind die Universitätsspitäler koordiniert vorgegangen, um besser an Wissen heranzukommen und um Erkenntnisse daraus schneller umzusetzen. Das war zwar eine grosse Herausforderung, aber durchaus auch eine sehr positive Erfahrung.

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«Umfassende und schnelle Kommunikation hatte höchste Priorität.»
Annelies Zinkernagel, Prof. Dr., Direktorin der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene

Welche konkreten Massnahmen hat die Infektiologie im Spital ergriffen?

Umfassende und schnelle Kommunikation hatte für uns höchste Priorität. Die Taskforce hat bereits im Februar erste Informationsmails an alle Mitarbeitenden versandt, aber auch an andere Spitäler. Alle paar Tage folgten Updates zum Beispiel mit Informationen zu Schutzmaterial oder zum korrekten Vorgehen bei Isolationen. In kürzester Zeit haben wir zudem SOPs, also standardisierte Vorgehensweisen, angepasst oder Erklärvideos zu Hygienemassnahmen realisiert, die auf unserem Intranet aufgeschaltet wurden. Um die Mitarbeitenden noch direkter abzuholen, haben wir in der ersten Phase Townhalls organisiert, damit wir auf ihre Fragen direkt und persönlich eingehen konnten. Wir haben auch sehr früh damit begonnen, Verdachtsfälle zu testen. Testen ist das A und O. Seit April 2020 testen wir alle eintretenden Patienten und seit Oktober 2020 führen wir in der Alten Anatomie ein öffentliches Testzentrum. Schliesslich war es auch unsere Aufgabe zu prüfen, wie die COVID-Patientinnen und Patienten im ambulanten Setting am besten betreut werden konnten, und wir haben dazu entsprechende Anweisungen erlassen.

Und wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit den Behörden?

Die Interaktion mit den Behörden während einer Pandemie ist essenziell. Mit den Kantonsärzten hatten wir von Anfang an einen regelmässigen und intensiven Austausch. Wir haben sie zum Beispiel bei der Entwicklung von Guidelines und SOPs unterstützt. Im Auftrag des BAG fungieren unsere Infektiologen auch als Grenzärzte, was während dieser Pandemie eine besondere Herausforderung ist. Zweimal hat uns eine Delegation der Zürcher Gesundheitsdirektion besucht. Die Regierungsrätin und ihre Mitarbeitenden konnten sich so ein Bild von der Situation auf den Intensivstationen und den COVID-Stationen machen. Das war sehr wichtig, um den grossen Aufwand einschätzen und würdigen zu können. Die Expertise unserer Mitarbeitenden wurde wahrgenommen und die Behörden können auch heute unser Wissen jederzeit «abholen».

Das USZ hat schon früh damit begonnen, seine Patientinnen und Patienten zu impfen.

Das ist richtig. Wir haben schon früh darauf hingewiesen, dass wir impfen wollen. Als es dann plötzlich so weit war, dass auch wir impfen konnten, haben wir während der Weihnachtsferien innerhalb von zwei Wochen die erste Impfkampagne aufgesetzt. Das war ein ziemlicher Kraftakt. Es war uns aber sehr wichtig, unsere vulnerablen Patientinnen und Patienten im Haus so schnell wie möglich zu impfen. Wir haben in kurzer Zeit sehr viele Menschen geimpft, übrigens auch Personal von anderen Spitälern. Unsere Mitarbeitenden haben einen ausgezeichneten Job gemacht. Wenn wir jeweils Impfdosen zur Verfügung hatten, haben wir innerhalb weniger Stunden Impfwillige aufgeboten. Wir stufen die Prävention durch das Impfen als sehr wichtig ein. 

Warum werden ältere oder vulnerable Menschen zuerst geimpft?

Der Bund hat entschieden, die Menschen, die einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, schwer an COVID zu erkranken oder daran zu sterben, zuerst zu impfen. Damit reduzieren wir die Anzahl der schwer erkrankten Patienten und schonen das Gesundheitssystem. Darum hat man die über 75-Jährigen zuerst geimpft und danach Menschen mit schweren Komorbiditäten. Das hat bisher sehr gut funktioniert. Amerika hat es anders gemacht, dort wurden zuerst alle Menschen im Gesundheitssektor geimpft. Aber die Argumentation der EKIF, also der Eidgenössischen Kommission für Impffragen, war, und das haben wir auch am USZ gesehen, dass wir uns mit korrekten Hygienemassnahmen immer gut schützen können. Die Impfung ist eine zusätzliche Massnahme. Ich denke, dieses Vorgehen war richtig, allerdings hat es auch sehr viele Emotionen ausgelöst. Beim Personal haben wir darum zuerst jene geimpft, die direkt mit COVID-Patienten zu tun haben. Wir haben mit den Mitarbeitenden im Notfall, auf den Intensivstationen und COVID-Stationen begonnen.

Wie war die Infektiologie in die Betreuung der COVID-Patientinnen und -Patienten involviert?

Am USZ wurden 2020 über 1’000 COVID-Patientinnen und -Patienten betreut. Aktuell liegen immer noch Patienten auf der Intensivstation und auf normalen Abteilungen. Die Mitarbeitenden der Infektiologie haben in den letzten Monaten viele davon betreut. Unsere Expertinnen und Experten haben alle diese Patienten isoliert und waren konsiliarisch unterwegs. Auch das Contact-Tracing des Kantons wurde von unseren Mitarbeitenden unterstützt.

Sie und einige Ihrer Mitarbeitenden haben in der Öffentlichkeit eine wichtige Expertenrolle eingenommen.

Tatsächlich sind seit Beginn der Pandemie Einschätzungen und Fachkompetenz unserer Expertinnen und Experten auch in den Medien sehr gefragt. Wir haben unzählige Interviews gegeben und so zur Aufklärung der breiten Öffentlichkeit beigetragen. Verschiedene Exponenten unserer Klinik sind Mitglieder in nationalen und internationalen Gremien, wie etwa Prof. Nicolas Müller, der in der nationalen COVID-Taskforce einsitzt, oder PD Dr. Walter Zingg, der für Swissnoso und für die WHO beratend tätig ist.

Worauf legen Sie derzeit den Fokus?

Das ist zum einen die Nachbetreuung der Long-COVID-Patientinnen und -Patienten. Dabei verfolgen wir einen interdisziplinären Ansatz, in dem die Expertise der Infektiologie eine sehr wichtige Rolle spielt. In der Forschung sind wir in klinischen und experimentellen Studien zu COVID involviert. Trotz der grossen Belastung unserer Mitarbeitenden durch den klinischen Alltag in der Pandemie messen wir dem universitären Aspekt unserer Tätigkeit grosse Bedeutung bei. Bereits heute haben wir zu COVID zahlreiche wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht.

Wenn Sie der Pandemie auch etwas Positives abgewinnen müssten, was wäre das?

Es gibt zwei positive Punkte. Erstens: Die Welt und das USZ haben noch stärker realisiert, wie extrem wichtig Infektiologie ist und damit verbunden Präventionsmassnahmen wie Impfungen oder spitalhygienische Massnahmen. Der zweite Punkt ist die bereits erwähnte Kommunikation. Das haben wir am USZ sehr gut gelöst, weil wir in der Taskforce von Anfang an die Key-Player aus allen wichtigen Bereichen der Organisation am Tisch hatten und immer noch haben.

Wagen Sie an dieser Stelle einen Blick in die Zukunft?

Wir machen uns derzeit grosse Sorgen wegen der Mutationen. Sobald wir über genügend Impfstoff verfügen und mit der wärmeren Jahreszeit, in der sich die Menschen vermehrt im Freien aufhalten, haben wir aber gute Chancen, dass die Zahlen zurückgehen. Dennoch werden wir mit den aktuellen Schutzmassnahmen weiterleben müssen. Das Virus wird unser Leben noch lange mitbestimmen, davon bin ich überzeugt. Früher oder später werden wir eine gewisse Immunität entwickeln. Dann wird das Coronavirus, wie etwa Influenza, Teil unseres Alltags werden.

Annelies Zinkernagel
ist seit dem 1. August 2020 Direktorin der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene.

Sie kehrte 2009 nach einigen Jahren an der University of California San Diego ans USZ zurück. 2013 wurde sie zur Leitenden Ärztin, 2015 zur Assistenzprofessorin für Experimentelle Infektiologie an der Universität Zürich ernannt. Unter anderem ist sie Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF) und designierte Präsidentin der Europäischen Gesellschaft für klinische Mikrobiologie und Infektiologie (ESCMID). Annelies Zinkernagel ist verheiratet, hat zwei Töchter und wohnt mit ihrer Familie in Zürich.