Berichte 2019

Die Mitarbeitenden wussten um die Dringlichkeit der Situation

Sieben Tage die Woche ist Jürg Hodler als Ärztlicher Direktor unter anderem für die medizinische Sicherheit des USZ zuständig. In seiner Funktion leitet er die COVID-Taskforce am USZ. Im Sommer 2021 tagt diese immer noch regelmässig. Jürg Hodler schaut im Interview zurück auf ein ausserordentliches Jahr.

War das USZ gut auf die Pandemie vorbereitet oder hätte man rückblickend anders vorgehen müssen?

Jürg Hodler: Von der Fachkunde her war das USZ sehr gut vorbereitet. Ein Universitätsspital vereint viel Expertise. Ich meine damit nicht nur unsere eigenen Leute, sondern auch die Fachpersonen aus den benachbarten Hochschulen. Dank dieser hohen Konzentration an Wissen waren wir in einer besonderen Situation. Einen weiteren Vorteil sehe ich im Charakter der Mitarbeitenden am USZ. In einem akademischen Umfeld ist man zwar gewohnt, zu hinterfragen und zu debattieren, wenn es aber ernst wird, wissen alle, wo die Prioritäten liegen und wie sie damit umgehen müssen. Nicht zuletzt verfügt das USZ auch über die nötigen Strukturen. So haben wir einen etablierten Krisenstab und Stabsräume, die wir unmittelbar in Betrieb nehmen können und wir üben regelmässig praktische Einsätze. Ausserdem haben wir am USZ auch eine Gruppe, die sich mit gefährlichen und hochinfektiösen Erkrankungen beschäftigt. Diese insgesamt gute Ausgangslage hatte zur Folge, dass wir schon sehr früh mit einer expliziten Covid-19-Taskforce unterwegs waren. Deutlich früher als andere. Dank diesem Vorsprung hatten wir schnell Zugang zu wichtigen Informationen, die uns zum Beispiel bei der Rückverfolgung von Infektionsketten von grossem Nutzen waren.

Sie hatten also bereits Erfahrungen im Umgang mit SARS, MERS oder auch Ebola. Was war denn bei der Covid-19-Pandemie anders?

In erster Linie kommt mir in den Sinn, was gleich war. Gleich war eben, dass wir bereits über die Strukturen und die Fachpersonen verfügten, um als Taskforce sehr schnell mit unserer Arbeit starten zu können. Und wir wussten aus früheren Bedrohungen durch Infektionen, dass sie in der breiten Volksmeinung unterschätzt werden – bis sie da sind – dann fürchten sich die Menschen überproportional davor. Die Bedrohung ist unsichtbar, man weiss nicht, was passieren wird. Der grosse Unterschied zu den früheren Krisen aber ist vor allem das Ausmass, das die aktuelle Pandemie angenommen hat.

Hatte das USZ als Universitätsspital besondere Aufgaben?

Viele staatliche und andere Stellen benötigten Fachwissen. Da wir über viel mehr Expertise verfügen als andere, wurden zum Beispiel unsere Infektiologen buchstäblich überrannt. Das war anfangs ein Problem. Es kamen Anfragen von Praxen, von anderen Spitälern, von den Medien und vom Bund. Und natürlich haben wir auch die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich fachlich unterstützt. Zu Beginn der Pandemie wurden zudem viele Patienten an uns überwiesen, die auch an anderen Orten hätten behandelt werden können. Das hat unsere Organisation zusätzlich belastet, insbesondere unsere Notfallstation.

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«Die Solidarität innerhalb des Spitals war gross.»
Jürg Hodler, Prof. Dr. med., Ärztlicher Direktor und Mitglied der Spitaldirektion sowie Direktor des Instituts für Diagnostische und Interventionelle Radiologie am USZ.

Wie gross war – in Ihrer Wahrnehmung – die Solidarität zwischen den Mitarbeitenden, den Kliniken und den anderen Spitälern?

Innerhalb des USZ hat die gegenseitige Unterstützung sehr gut geklappt. Ich war zum Teil selbst überrascht, wie unaufgeregt Personal verschoben oder Programme reduziert wurden. Die Solidarität innerhalb des Spitals war gross. Aber auch unter den anderen Spitälern, insbesondere in der zweiten Welle, als die Regulierung freiwillig war. Natürlich gab es auch sogenannte Kriegsgewinnler. Ich denke da an Situationen, wo zum Beispiel Material gehortet wurde. Das kann ich nicht nachvollziehen. Jedes Medikament und alles Material, das irgendwo gehortet wird, fehlt bei den Patienten. 

Es hiess, die Corona-Krise sei auch eine Logistikkrise. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?

Das kann ich bestätigen. Wir hatten ein paar sehr unangenehme Überraschungen. Ich erinnere mich, dass man sich in der Vergangenheit häufig über die «Vorratshaltung» mokiert hat, dass diese noch aus Zeiten des Zweiten Weltkrieges stamme, die doch längst vorbei seien. Aber als es ernst wurde, hatte es in der Schweiz tatsächlich zu wenig Schutzbrillen, zu wenige FFP2-Masken, nicht ausreichend Desinfektionsmittel. Das finde ich inakzeptabel. Andere Aspekte der Logistik hingegen haben sehr gut funktioniert, so gab es beispielsweise keine Transportkapazitätsbeschränkungen.

Was sind Ihre Erkenntnisse aus den Erfahrungen von 2020 für die Organisation USZ? Was wurde besonders gut gemacht?

Sie fragen jetzt vielleicht den Falschen, da ich ja der Leiter der Covid-Taskforce bin (lacht). Aber ich denke, wir haben das insgesamt sehr gut gemacht. Natürlich sind auch Fehlentscheidungen gefällt worden. Mal weil nicht die richtigen Informationen vorlagen, mal weil wir eine Lage einfach falsch eingeschätzt haben, insbesondere ganz am Anfang. Wenn die Unsicherheit und die Angst vor dem, was da noch kommt, gross ist, macht man auch Fehler, die man rückblickend nicht mehr machen würde.

Was waren typische Aufgaben der Taskforce?

In erster Linie haben wir Informationen gesammelt, diese bewertet und an die richtigen Stellen weitergegeben. In der Taskforce wurden auch mittelfristige Massnahmen vorbereitet, Entscheidungen dazu gefällt – dies vor allem in der ersten Welle. Die Taskforce kam dann auch jeden Tag zusammen. In der zweiten Welle waren wir in einem geordneten Führungsrhythmus.

Wer sitzt in der Taskforce und warum gerade diese Personen?

Wie bereits erwähnt, konnten wir auf bestehende Strukturen zurückgreifen. Typische Krisenstäbe haben einen Stabschef und verfügen über Mitglieder, die an der Front tätig sind – um bei der militärischen Sprache zu bleiben. Es braucht jemanden, der Nachrichten beschafft, es braucht Kommunikationsleute, es braucht Leute aus dem Kerngeschäft. In einem Spital sind das Leute aus der Pflege und der Ärzteschaft. Insgesamt war die Taskforce etwas anders ausgerichtet als etwa nach einem Verkehrsunfall mit einem Massenanfall von Verletzten. In der Covid-19-Taskforce sassen deutlich mehr ärztliche Fachspezialisten.

Es wurden also zahlreiche Massnahmen nötig, gab es Schwierigkeiten bei der Umsetzung?

Nein. Alles wurde umgesetzt. Die Mitarbeitenden wussten ja um die Dringlichkeit der Situation. Unsere Mitarbeitenden haben sehr gut gearbeitet.

Die Belastung durch die vielen Massnahmen, aber auch die Versorgung der vielen Covid-19-Patienten im USZ hat das Personal an seine Grenzen gebracht. Wie wurde das Personal unterstützt?

Viele unserer Massnahmen galten dem Schutz von Mitarbeitenden und Patienten. Dazu gehörten zum Beispiel die Zutrittsberechtigungen, die wir schon früh stark eingeschränkt haben, genauso wie die Maskenpflicht auf dem Campus. Das waren denn auch Themen, für die wir in der Öffentlichkeit zum Teil stark kritisiert wurden. Für uns waren diese Massnahmen aber entscheidend. Die weichen Faktoren hingegen waren nicht Aufgabe der Taskforce. Da haben andere Stellen am USZ sehr viel gemacht, etwa die Pflegeleitungen, das HRM, die Seelsorge, die klinische Ethik und viele mehr. Sie haben Massnahmen ergriffen, um für alle Erleichterung zu schaffen für Patienten, aber auch für die Mitarbeitenden. Dazu gehörte auch die Entscheidung, den Drei-Schichten-Betrieb beizubehalten oder keinen Ferienstopp zu verhängen, damit sich die Mitarbeitenden erholen konnten. 

Mir persönlich war es zudem sehr wichtig, physisch präsent zu sein, mich mit den Mitarbeitenden auszutauschen und ihnen zu signalisieren, dass die Direktion sie so gut wie möglich zu unterstützen sucht. Gerade während der ersten Welle waren meine Kolleginnen und Kollegen aus der Spitaldirektion und ich jeden Tag im Haus, auch an den Wochenenden. Die Führung sollte sichtbar und präsent sein.

Konnte das USZ auch während der Pandemie die Qualität und Patientensicherheit im gewohnten Umfang gewährleisten?

Grundsätzlich ja. Gewisse Messungen aber wie etwa zu den Infektionsraten oder zu Sturz und Dekubitus wurden nicht durchgeführt und konnten deshalb auch nicht monitorisiert werden. Wir hatten aber auch kaum Patientenbeschwerden. Zum einen war das Patientenvolumen im Jahr 2020 geringer. Wir vermuten aber auch, dass sich die Menschen bewusst waren, dass eine sehr ernste Situation vorlag, und sie daher eine Unzulänglichkeit eher in Kauf nahmen etwa eine längere Wartezeit. Die Faktoren, die wir messen konnten, geben aber keine Hinweise darauf, dass wir in der Qualität unserer Leistungen nachgegeben hätten. Die Präsenz der Führung und die Aufmerksamkeit, die man dem Personal entgegenbringt, sind in einer Krisensituation entscheidend. Problematisch mit der Qualität wird es erst dann, wenn dieser Support fehlt. Wir haben uns sehr bemüht, diese Unterstützung zu geben. Wir hatten am USZ auch keinen Mangel an Medikamenten oder konnten allfällige Engpässe mit anderen Wirkstoffen überbrücken.

Während vieler Wochen waren elektive Eingriffe am USZ nicht möglich. Wie wurde entschieden, welche Patienten dennoch behandelt wurden?

Es gab Kriterienkataloge von der kantonalen Gesundheitsdirektion und vom Bund. Hatte ein Patient schwere oder mehrfache Erkrankungen, bei denen ein Aufschub negative Auswirkungen haben kann, oder auch unerträgliche Schmerzen etwa eine Diskushernie, hat man diesen auch operiert.

Kam es in der Folge zu mehr Komplikationen?

Nein. Dafür haben wir keine Evidenz.

Wie schätzen Sie die medizinischen Folgen von nicht ausgeführten Eingriffen insgesamt auf die Volksgesundheit ein?

Es hiess ja zum Beispiel, es seien weniger Schlaganfälle versorgt worden. Schaut man allerdings die mittelfristigen Zahlen dazu an, ist man nicht mehr sicher, ob dies einen Zusammenhang mit der Pandemie hat. Stark diskutiert wurden auch die Zahlen zu den Herzinfarkten. Da gab es tatsächlich weniger. Aber grundsätzlich gab es im Alltag der Menschen auch weniger Stresssituationen. Reicht das nun, um weniger Herzinfarkte zu produzieren? Diese Fragen sind noch offen. Die dritte grosse Gruppe sind die onkologischen Erkrankungen. Am USZ wurden Patienten mit aggressiven Tumoren ab einer bestimmten Grösse immer operiert. Bezüglich Fallzahlen weisen wir ähnliche Werte aus wie 2019.

Warum hat das USZ denn ganz allgemein weniger Patientinnen und Patienten gesehen?

Ein Punkt war sicher, dass die Menschen von den Massnahmen gegen die Pandemie im Spital abgeschreckt waren. Wir haben das zum Beispiel in der Radiologie gesehen. Unsere Patienten gingen lieber nach Wollishofen, wo das USZ auch radiologische Leistungen anbietet. Dort hat es zehn Parkplätze vor der Tür und keine langen Wege durch ein Spital. Zum Teil wurden Leistungen auch aufgeschoben, etwa Präventionsuntersuchungen. Ich gehe davon aus, dass im gesamten Gesundheitswesen solche Mechanismen gespielt haben. Es gab auch Behandlungen, die man gut hinausschieben konnte, wie etwa den Einsatz einer Hüftprothese oder eine Prostataoperation. Ob diese Operationen zu einem späteren Zeitpunkt stattgefunden haben, werden wir sehen, wenn wir die Statistiken für das Jahr 2021 auswerten.

Haben die verschärften Hygienemassnahmen im Spital auch Vorteile gebracht, zum Beispiel bezüglich der Vermeidung anderer nosokomialer Infektionen?

Das ist korrekt. Dazu eine kleine Anekdote, als wir einen Influenzafall diagnostizierten, wurde der in der Taskforce präsentiert, weil diese Diagnose so selten geworden war. Aber Influenza darf man nicht unterschätzen, in einem normalen Jahr sind im Winter durchaus ein Dutzend Betten durch Influenzapatienten belegt.

Und wie sieht es mit anderen nosokomialen Infekten aus? Haben die zusätzlichen Hygienemassnahmen solche verhindert?

Dazu haben wir keine exakten Messungen, weil diese im Jahr 2020 aufgrund der Pandemie ausgesetzt werden mussten. Für das Jahr 2021 haben wir bei der Swissnoso-Punktprävalenzmessung 5.8 Prozent erreicht, was einem sehr guten Wert entspricht. Diese Stichprobe wird jeweils im April durchgeführt.

Wovor haben Sie sich im Jahr 2020 am meisten gefürchtet? Was war Ihr Worst-Case-Szenario?

Mir graute vor einer hohen Mortalität wie zum Beispiel bei der Vogelgrippe. Szenarien wie ein Notspital in einer Turnhalle kannte ich aus den Stabsübungen der Armee. Mir schien es denn auch nicht völlig ausgeschlossen, dass in solchen Notspitälern sehr viele Patienten auf engstem Raum liegen könnten, notdürftig betreut durch Medizinstudenten oder Ärzte ohne intensivmedizinische Ausbildung. Entsprechende Bilder aus der Zeit der Spanischen Grippe sind ja immer wieder gezeigt worden. Schon früh ging mir durch den Kopf, was passieren kann, wenn die ganze Wirtschaft zusammenbricht. Wie kommen wir aus dieser Geschichte wieder raus? Menschen sterben in Massen in den Notspitälern, wir können keine adäquate ärztliche Behandlung bieten, unser Personal wird krank und steigt aus. Und im Anschluss folgt eine schwere Wirtschaftskrise …

Und wann haben Sie gespürt, dass es nicht so schlimm kommt?

Relativ rasch. Ich könnte jetzt kein Datum nennen, aber wir haben ja gesehen, wie viele unserer Notfallpatienten tatsächlich hospitalisiert werden mussten und dass davon rund 10 Prozent auf die Intensivstationen kommen. Dennoch war es eine extreme Belastung für das Personal, weil es über Monate ein Dauerzustand auf hohem Niveau war. Aber wenigstens war die ganz grosse Angst weg. 

Wagen Sie einen Ausblick in die nahe Zukunft? Wann wird Covid-19 nicht mehr unseren Alltag bestimmen?

Eine vierte Welle war absehbar. Wir hätten uns erhofft, dass sie erst ab Oktober anrollt. Sie ist aber wesentlich früher eingetroffen, mit einem Wiederanstieg der Neudiagnosen ab Anfang Juli. Viele der Infektionen sind aus Feriendestinationen importiert worden. Impfgegner oder unfreiwillig noch nicht geimpfte Personen sind ebenfalls Treiber. Gemäss unserem ehemaligen Leiter der Spitalhygiene nehmen einen Monat nach Zunahme der Neudiagnosen die IPS-Hospitalisationen zu. Diese Regel fand sich bisher bestätigt. Aus Ländern, die mehr geimpft haben als die Schweiz, weiss man, dass es durchaus Wellen gibt, wobei weniger Menschen sterben. Für unseren Betrieb sind vor allem die IPS-Patienten relevant. Ich ging im Juli von einer flachen vierten Welle aus, was wohl zu optimistisch war. Ich hoffe einfach sehr, dass wir dadurch nicht wieder in unserer Produktivität eingeschränkt werden, keine Operationsprogramme streichen müssen und vor allem dass unser IPS-Personal durchhält.

Sehen Sie einen Silberstreifen am Horizont?

Erfahrungsgemäss wird die Infektion entweder wieder verschwinden, wie die Vogelgrippe oder die Spanische Grippe, oder aber sie geht derart in das System ein, dass wir sie so beherrschen wie die Influenza und sie zu unserem Leben gehören wird.

Jürg Hodler, Prof. Dr. med.
ist seit 2011 Ärztlicher Direktor und Mitglied der Spitaldirektion sowie Direktor des Instituts für Diagnostische und Interventionelle Radiologie am USZ.

Davor war er Leiter der Radiologie an der Uniklinik Balgrist. Er hat einen Facharzttitel in Radiologie und ist Inhaber des Lehrstuhls für Radiologie der medizinischen Fakultät der Universität Zürich.